Bedeutung des Christentums in Anatolien - Orhan Seyfi Yücetürk

In der Geschichte Anatolien spielte auch das Christentum eine bedeutende Rolle. Bereits in der christlichen Frühzeit fand das Christentum Verbreitung in Anatolien, nahm bereits Organisationsformen durch die Bildung von Gemeinden an. Die Einwanderung der Türken, die Anhänger des Isams waren, schmälerte die christlichen Einflüsse nicht. Beide Religionen lebten ein friedliches Miteinander. Wer sich einmal mit dem Koran beschäftigt hat, den wundert das nicht. Schließlich sind die religiösen Ursprünge nahe mit den weiteren Offenbarungsreligionen Judentum und Christentum geradezu identisch. Viele biblische Schilderungen finden sich auch im Koran wieder. Im Islam werden Juden und Christen als "Menschen des Buches" bezeichnet, und ihnen wird besondere Achtung entgegengebracht.

Berührungspunkte von Koran und Bibel

Gleichheiten zwischen Koran und Bibel finden sich beispielsweise mit dem Alten Testament der Bibel und den großen Propheten und Urvätern. Noah, Abraham, sein Sohn Isaak, Ismael, Moses, der die Juden aus Ägypten führte und die Gebote verkündete, auch Jesus finden sich als Propheten unter den Vorgängern von Muhammed. Der Koran beruft sich auf diese gemeinsamen Ursprünge, indem zum Beispiel dem Propheten Muhammed die Botschaft offenbart wurde:

„Sag: Ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs zwischen uns und euch. Dass wir alle Gott allein dienen und ihm nichts beigesellen; und dass wir uns einander nicht an Gottes statt zu Herren nehmen.“

Jesus wird im Koran als einer der Propheten angesehen:

 „Und Er wird ihn die Schrift, die Weisheit, die Thora und das Evangelium lehren.“ (3,48)

Auch die in der Bibel beschriebenen Wunder werden Jesus im Koran erwähnt. So finden sich im Koran zahlreiche Gleichheiten mit den biblischen Aussagen. Grundlegend ist jedoch, dass es sich bei Islam, Judentum und Christentum nicht nur um monotheistische Religionen handelt, sondern alle drei auch den gleichen Gott als Weltherrscher und Gesetzgeber für das Leben anerkennen.

Wanderung der Christen nach Anatolien

Zur Zeit der Entstehung des Christentums in Palästina, gab es die verschiedensten religiösen Richtungen im antiken Raum. Im vorderen Orient war der östliche Mystizismus verbreitet, das Judentum war bereits verwurzelt. Daneben standen die großen Einflüsse der griechischen Philosophie und Götterreligion und römische Götterwelt, die vor allem Einfluss durch die militärische Vorherrschaft gewann. Die Anhänger von Jesus Christus verbreiteten allerdings eine neue Botschaft, die ewiges Leben als Lohn für Aufrichtigkeit und Einhaltung der göttlichen Gebote versprach. Nach der Kreuzigung von Jesus und der Verfolgung seiner Anhänger in Palästina verließen viele seiner Anhänger Palästina und verbreiteten ihren Glauben in anderen Ländern. Eine große Anzahl von ihnen machte sich auf den Weg nach Anatolien, ließen sich insbesondere in Antiochien (heute Antakya), Ephesos und Tarsus nieder. Auch Jesus' bevorzugter Jünger Johannes gehörte zu den Auswanderern. In Antiochien/Antakya wurde schließlich die erste christliche Gemeinde gegründet, die zu einem bedeutenden Missionszentrum des Christentums wurde und wo auch Paulus seine Bekehrung und weitere Entwicklung vollzog. Die Wanderung der Christen nach Antiochien findet sogar Erwähnung in der biblischen Apostelgeschichte des Lukas mit der Beschreibung, dass Jünger aus Jerusalem dorthin zur Verkündung des Evangeliums gingen. Auch die Benennung der Anhänger der Verkündung von Jesus als Christen ist erstmals aus Anatolien bekannt. Durch die Namensgebung in Anlehnung an den Messias, den Christus, sollte sie von den Juden unterscheiden.

Bedeutende Christen im alten Anatolien - Paulus, Petrus, Johannes

Etwa um 33 n.Chr. schloss sich Paulus, der zuvor Christen verfolgt hatte, nach einer Vision dem neuen Glauben an und wurde zu einem entschiedenen Verkünder des Christentums. Er reiste dazu durch Anatolien, Nigde und Konya, nach Ikonium, Lystra und andere Städte und trug dort zu neuen Gemeindegründungen bei. In den 50er Jahren n.Chr. unternahm er mit weiteren Aposteln weitere Reisen bis hin nach Makedonien, Griechenland und Jerusalem, um schließlich nach Antiochia zurückzukehren. Schließlich setzte er später die Missionsarbeit in Rom fort, wo er schließlich 67 n.Chr. zum Tode verurteilt wurde. Die meisten seiner Schriften und die bekannten Paulus-Briefe wurden in Anatolien verfasst. Petrus, ebenfalls ein namhafter Jünger Christi und Apostel, richtete seinen ersten Pastoralbrief an die Christen Anatoliens, als diese unter Verfolgungen zu leiden hatten. Das Grab des Johannes befindet sich bei Ephesos, in Selcuk, wo später ihm zu Ehren vom römischen Kaiser Justinian eine Basilika erbaut wurde. Johannes ist vor allen durch seine Offenbarungen bekannt. Hier wendet er sich beispielsweise an die sieben Gemeinden in Westanatolien, Alasehir, Izmir, Bergama, Akhisar, Laodikeia, Ephesos und Sardes. Im Jahr 431 n.Chr. fand in Ephesos das dritte ökumenische Konzil statt. Dieses Konzil erlangte vor allem dadurch Bedeutung, dass hier festgelegt wurde, Maria, die Mutter von Jesus, als Gottesgebärerin zu erklären. Auch folgende Konzile wurden bis ins 10. Jahrhundert in Anatolien durchgeführt.

Eine weitere wichtige Persönlichkeit des Christentums war der Patriarch und Heilige Gregorius, der an der Verbreitung des Christentums in Anatolien großen Anteil hatte. Er wirkte sogar mit Genehmigung des Arsakidenherrschers Tiridas III. Ausbreitung fand dann das Christentum auch unter den Türkenstämmen der Avaren, Pesenk, der Zu, Kuman, Bulgartürken und Kipcak auf dem Balkan.

Maria und der Koran

Maria, als Mutter von Gottes Sohn Jesus, spielt im christlichen Glauben eine wichtige Rolle. Insbesondere die Katholiken betrachten sie als heilig und widmen ihr bedeutsame Rituale, beten auch zu ihr. Über den Aufenthaltsort von Maria nach der Kreuzigung von Jesus gibt es verschiedene Vermutungen. Bis heute haben sich allerdings Behauptungen erhalten, dass Maria in Ephesos gelebt habe und dort auch gestorben sei. Nach wie vor wird von den Christen der Region jährlich am 15. August die Aufnahme von Maria ins Himmelreich, Mariää Himmelfahrt, gefeiert. Im 18. Jahrhundert schließlich erklärte sogar der damalige Papst Benedict XIV. Ephesos für den Sterbeort von Maria. Noch später, nämlich auf 1967, ist die Anerkennung von Marias Haus in Ephesos durch Papst Paul IV. datiert. Die Auffindung dieses Haus wird auf die Vision einer Nonne zurückgeführt, die es in allen Einzelheiten beschreiben konnte. Das Haus der Maria in Ephosos ist zu einem bedeutenden Wallfahrtsort geworden, der sowohl von Christen wie auch von Muslimen aufgesucht wird.

Dass auch Muslime an diesem Wallfahrtsort beten, erklärt sich aus dem Koran. In er 19. Sur und vielen Versen im Koran wird vom Meryem (Maria) gesprochen und von ihrem Sohn Jesus. Maria wird Verehrung entgegengebracht, sie gilt als Bewahrerin der Keuschheit, Tugend und Empfängerin des Wortes Allahs. Auch die jungfräuliche Geburt von Jesus ist Inhalt des Korans. Sie gilt als das Zeichen von Allahs Allmacht.

In Anatolien finden sich somit sehr bedeutsame Wurzeln des Christentums und seiner weiteren Verbreitung nach Europa und in der Welt. Ebenso zeigen die Berührungspunkte zwischen Koran und Bibel, dass es sich bei Islam, Judentum und Christentum um drei eng miteinander verwandte Religionen handelt.